Das ungeschriebene Buch der Rekorde

Von kühnen interpretatorischen Aktionen

Einer der waghalsigsten musikalischen Rekordversuche in der jüngeren Wiener Interpretationsgeschichte war die Aufführung von Gustav Mahlers "Lied von der Erde" durch die Wiener Philharmoniker unter Jonathan Nott - mit nur einem Solisten: Jonas Kaufmann sang nicht nur die drei Tenor-Lieder dieser "Symphonie für eine Alt- und eine Tenorstimme und großes Orchester", sondern auch die drei sonst einer Kollegin oder einem Bariton-Kollegen vorbehaltenen Sätze. Das war, abgesehen von allen fragwürdigen Begleiterscheinungen schon wegen der Länge der Aufgabe außerordentlich: Etwas über eine Stunde dauert das „Lied von der Erde“ – das quasi ohne Pause, nur durch ein paar Orchester-Ritornelle unterbrochen, durchzustehen ist eine athletische Aufgabe.

Blättert man in den Rezensionen, so findet man etwa eine Kritik aus dem Mahler-Jahr 1960. Da holte Herbert von Karajan den jungen Fritz Wunderlich für das "Lied von der Erde" aufs Musikvereinspodium, und der Rezensent berichtet, die Orchesterwogen seien über der Edelstimme im ersten „Trinklied“ unbarmherzig zusammengescalugen. Im Plattenstudio herrschen andere Gesetze - und Wunderlich war an der Seite von Christa Ludwig das Traum-Duo für die wohl unbestritten beste aller Aufnahmen des "Lieds" unter Otto Klemperer.

Allerdings sei, apropos Buch der Rekorde, zur Ehrenrettung Wunderlichs angemerkt: Der Tenor absolvierte an dem bewussten Tag in Wien einen Mahler-Marathon wie  Jonas Kaufmann ein halbes Jahrhunder später: Er sang im "Lied von der Erde" zwar nur die drei Tenorlieder, war zur Feier des Komponistengeburtstags aber am selben Abend auch als Solist in der Achten Symphonie zu hören. Auch das  ein möglicher Eintrag im imaginären Buch der Rekorde der musikalischen Interpretationsgeschichte.

Was finden wir noch, wenn wir dort nachschlagen? Kräfteraubende Kuriosa wie den Auftritt von Gwyneth Jones im Zürcher Opernhaus, die wegen plötzlicher Erkrankung ihrer Kollegin zwei Monsterpartien, die Kaiserin und die Färberin in Richard Strauss' „Frau ohne Schatten“ am gleichen Abend sang! Oder Lorin Maazels Beethovenmarathon, alle neun Symphonien an einem Tag – in London oder Pittsburg Ende der Achtzigerjahre zu erleben.

Nur die Sache mit der Bilokation ist noch nicht ganz gelöst: Sir Georg Solti träumte davon, ein und dasselbe Konzertprogramm in London und Chicago präzis ab 19.30 zu dirigieren – am selben Kalendertag, jeweils zur Ortszeit. Als die Concorde noch flog, wäre sich das ausgegangen. Es wurde trotzdem nie realisiert.

Nur, apropos beliebter Tenor, Plácido Domingo sang am selben Abend in zwei Wiener Häusern: Der damalige Direktor von Volks- und Staatsoper, Eberhard Waechter, der leidenschaftlicher Hobby-Tramway-Fahrer war, chauffierte den Sänger nach der Aufführung von Puccinis „Tabarro“ in der Volksoper in einem Straßenbahn-Oldtimer zur Staatsoper, wo nach der Pause der „Bajazzo“ auf dem Programm stand.

Das wäre natürlich  auch etwas für Jonas Kaufmanns. Kommt nur darauf an, welcher Wiener Opernchef die Lenkberechtigung als Wiener Bim-Fahrer erwerben möchte . . .


Sinkothek Banner schmaljpg      Beckmessers Diariumjpg