KANN MUSIKKRITIK OBJEKTIV SEIN ?

Überlegungen zu einer häufig gestellten Forderung


Es gibt ein interessantes Paradoxon, das mich durch dreieinhalb Jahrzente des Musikkritiker-Daseins begleitet: Immer dann, wenn ich relativ ungeschminkt zu beschreiben versucht habe, was bei einer umstrittenen Opernaufführung auf der Bühne vorgegangen ist, wurde von manchen Lesern lauthals nach Objektivität gerufen.

Als Musikkritiker ist man ja hie und da recht einsam – zumindest bis die ersten Leserzuschriften hereinflattern, die dankbar konstatieren, dass wenigstens einer nicht mit den Wölfen heult, sondern – etwa im Fall von Opernaufführungen Text und Partitur zurate zieht, bevor er zu schreiben beginnt. So war es eines Tages auch im Falle der „Traviata“-Produktion so, die im Theater an der Wien herausgebracht wurde. Bei dieser Gelegenheit kam freilich auch der Brief eines Lesers ins Haus, der sich über den Dissens wunderte zwischen dem lauten Beifall im Haus und den meisten Rezensionen auf der einen – und meiner Rezension auf der anderen Seite.

So weit, so verständlich. Die Auseinandersetzung mit Kunst ist ja eine sehr persönliche Angelegenheit. Zuletzt fordert der Leser dann aber „mehr Objektivität“ ein – und das führt mich zu einem anderen Phänomen, das ich seit Langem beobachte.

Just in dem Moment, in dem man als Kritiker Fakten anführt, die gegen eine Inszenierung – oder eine musikalische Wiedergabe – sprechen, rufen Leser gern nach dieser Objektivität; also just dann, wenn objektiv nachprüfbare Dinge als Argumente gebraucht werden.

Die heftigsten Attacken werden erfahrungsgemäß gegen den geritten, der im Wesentlichen zu beschreiben versucht, was er auf der Bühne gesehen hat. Vielleicht sollte man den Versuch in diesem Fall noch einmal wiederholen: Objektiv betrachtet steht bei Verdi nichts davon, dass während der zentralen Unterredung zwischen Vater Germont und Violetta ein kleines Mädchen auf der Bühne hin und her geschubst und geohrfeigt wird.

Im Theater an der Wien war damsl, objektiv betrachtet, genau das zu sehen. Objektiv betrachtet, steht bei Verdi nichts davon, dass man seine Musik an beliebigen Stellen unterbrechen darf, um irgendwelche Inszenierungs-Gags anzubringen, nach denen das Orchester dann weiterspielt. Genau solche Unterbrechungen aber erlaubte man sich, objektiv betrachtet, in der fraglichen Inszenierung.

Ebenso objektiv betrachtet sollte ja die Orchesterbegleitung nicht über weite Strecken ein wenig hinter dem hinterherhinken, was die Sänger auf der Bühne von sich geben. Dass das bei der Premiere - wir bleiben der Einfachheit halber immer bei der fraglichen "Traviata", wiewohl es viele andere Beispiele gäbe - geschehen war, ließe sich, auch ziemlich objektiv, anhand eines unretuschierten Mitschnitts derselben nachprüfen.

Ein Teil dieser Fakten waren in der Rezension zu lesen – und nun dürfte man mir entgegnen, ein Zuschauer könnte eine Aufführung ja trotz solcher schwer widerlegbarer Einwände für künstlerisch gelungen und stark halten. Das stimmt.

Und damit wären wir in jenen Regionen gelandet, in denen man mit objektiven Kriterien einfach nicht mehr weiterkommt. Das Grazer Gastspiel sei "so gut gewesen wie die Salzburger Festspielproduktion mit Anna Netrebko", konstatierte der Leser – man könnte ihm zumindest in Teilbereichen beipflichten: Ja, auch die Salzburger Premiere war rund um eine ganz bestimmte Primadonna arrangiert – und ziemlich schlecht dirigiert.

Die kritische Auseinandersetzung mit künstlerischen Darbietungen – dazu gehört im weiteren Sinn auch der Applaus des Publikums – ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Subjektiv betrachtet – und da darf man mir also ruhig widersprechen – war und bin ich der Meinung, dass ein Wiener Opernhaus eine musikalisch eher mittelmäßige, szenisch auf völlig falschen Voraussetzungen basierende Produktion einer viel gespielten Oper nicht importieren sollte.

Diese Meinung habe ich damals, wie gesagt, mittels überprüfbarer Tatsachen zu begründen versucht. Viel objektiver geht es kaum, denkt man – amüsant, dass gerade das immer wieder dazu führt, dass „mehr Objektivtät“ eingefordert wird . . .



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