DIE WIENER NPHILHARMONIKER

Die Spieltradition dieses Orchesters lässt sich nicht durch seine Aufnahmen dokumentieren. Die Realität im philharmonischen Konzertleben und die der Tätigkeit in den Schallplattenstudios klaffte stets weit auseinander. Eine Bestandsaufnahme.

Zum 175-Jahr-Jubiläum der Wiener Philharmoniker ließ eine neue Box mit 44 CDs die Aufnahmegeschichte des Orchesters Revue passieren – soweit sie die Deutsche Grammophon Gesellschaft betrifft. Diese Einschränkung muss gleich noch einmal eingeschränkt werden. Wer nämlich meint, gesammelte Aufnahmen der Philharmoniker könnten einen repräsentativen Querschnitt durch deren künstlerische Tätigkeit vermitteln, irrt.

Die Aktivitäten des Orchesters im Aufnahmestudio waren kurioser Weise nur zum geringen Teil identisch mit dem, was im Musikverein – oder in der Staatsoper – live zu hören war. Aufführungen, die das Publikum als ideal empfand, wurden oft nicht auf Tonträger gebannt, weil Orchester und Dirigent bei verschiedenen Plattengesellschaften unter Vertrag waren.

Andererseits brachte es der meistbeschäftigte Schallplatten-Dirigent, Georg Solti, nicht einmal auf ein Dutzend philharmonischer Programme!

Die Beschränkung der jüngsten Edition auf ein Label macht den dieserart schiefen medialen Blick auf die Historie noch schiefer. Furtwängler, Karajan, Bernstein, Boulez oder Thielemann, ja freilich! Aber dass zentrale Werke des wienerischen Repertoires, die Brahms-Symphonien oder Smetanas „Vaterland“ unter James Levine in die Reihe Eingang fanden, dass ein Dirigent wie John Eliot Gardiner überproportional vertreten ist – noch dazu nebst Bruckner und Lehár mit Werken von Elgar und Chabrier, die wiederum mit dem Repertoirekanon der Philharmoniker kaum in Einklang zu bringen sind – verzerrt das Bild noch weiter.


Andere Schwerpunkte. Eine andere Auswahl also, die firmenübergreifend sogar Aufnahmen einbezieht, die nur noch in Antiquariaten zu haben sind?

Schallplattengeschichte jenseits der Realität des Wiener Musiklebens hat neben Solti beispielsweise auch Charles Mackerras geschrieben, indem er dafür sorgte, dass das Orchester sich das Werk von Leoš Janáček aneignete; zumindest im Studio.

Ähnliches war zuvor unter Lorin Maazel mit Sibelius passiert – interpretatorische und (dank Produzent John Culshaw) aufnahmetechnische Großtaten, von denen viele Sammler meinen, sie seien nie übertroffen worden.

Dennoch spielen Janáček und Sibelius kaum eine Rolle in philharmonischen Konzerten. Zwischen dem mittlerweile konsequent betreuten zeitgenössischen Repertoire und der (erst seit Kubelik und Bernstein „hoffähigen“) Musik Gustav Mahlers klafft nach wie vor eine erstaunliche Lücke.

Als der Philharmoniker-Vorstand in den Siebzigerjahren die Erstaufführung von Dmitri Schostakowitschs monumentaler Vierter Symphonie ankündigte, betonte er den Namen des Komponisten noch auf der zweiten Silbe . . .

Unfehlbar in der Muttersprache.
In jenem Repertoire, das für die Philharmoniker zur Muttersprache gehört, leistete man sich jedoch kaum je falsche Akzente. Mögen die Verträge mit den diversen Konzernen verhindert haben, dass manche Sternstunde bewahrt wurde, konnte doch idiomatisch Richtiges für die Ewigkeit gebannt werden.

So danken wir Karl Böhm – an Aufführungszahlen gemessen der wichtigste aller philharmonischen Maestri – ausgewogene Wiedergaben der Beethoven- oder Brahms-Symphonien, aber gottlob auch einiger später Mozart-Werke. Böhm hat überdies mit den Wienern auch manches von seinem zweiten Hausgott, Richard Strauss, dokumentiert; nicht zuletzt, um nur ein Beispiel zu geben, „Vier letzte Lieder“ mit Lisa Della Casa.

Glücksmomente dieser Art halten tatsächlich fest, zu welchen Höhen sich Wiener Musikleben im allerbesten Fall aufschwingen kann.

Will man in dieser Kategorie bleiben und so weit als möglich ausholen, muss man über Kubeliks „Vaterland“ oder Bruno Walters Mahler-Aufnahmen, Carl Schurichts und Wilhelm Furtwänglers Bruckner zu Beethovens „Eroica“ und der Neunten unter Felix Weingartner zurückgreifen. Diese Einspielungen relativieren manch achtlos tradierte „Wahrheiten“. Wenn es gern heißt, heutige Musiker spielten präziser, sauberer, technisch besser als die Altvordern, lernt man bei Weingartner: Es klang in den Dreißigerjahren schon mindestens so transparent, oft sogar klarer strukturiert als heute!

Zudem, dieses Aperçu sei noch gestattet, lässt sich hier hören, welch interpretatorisches Niveau das Orchester unter der Leitung eines „Chefdirigenten“ erreichen konnte, der nominell keiner war, aber über viele Jahre hin allein den gesamten Abonnementzyklus der Philharmoniker im Musikverein betreute! Man höre nur die ungemein differenzierte, wirklich „eloquente“ Phrasierung der Bässe im berühmten „Rezitativ“ am Beginn des Finalsatzes der Neunten; und die überlegene Tempodramaturgie im Kopfsatz der „Eroica“: Die Diskussion, ob eine „Reprise“ dort beginnt, wo das Hauptthema wiederkehrt, oder doch erst dort, wo die Haupttonart endgültig gefestigt erscheint, musste man mit Weingartner nicht führen, der übrigens wie die meisten bedeutenden Dirigenten seiner Generation selbst Komponist war.


Hintergründiges. Wenige jüngere Aufnahmen der Philharmoniker regen zu solch hintergründigen Überlegungen an. Eine aber vielleicht doch – und wieder stand ein Komponist am Pult: In Leonard Bernsteins Beethoven-Zyklus findet sich auch eine chorische Wiedergabe des cis-Moll-Streichquartetts op 131; eine Demonstration echter, also musikantischer, nicht zirkusreif-technischer Virtuosität. Wenn 16 philharmonische Primgeigen mit einer scheinbar ganz frei improvisierten Koloratur-Kadenz von einem in den nächsten Satz überleiten, dann ist das ein Dokument der legendären wienerischen Nonchalance gegenüber heikelsten Problemstellungen.

Hierher gehören selbstverständlich auch die Johann-Strauß-Aufnahmen von Clemens Krauss – zumindest einen Hauch von deren spielerischer Sicherheit im Umgang mit den höheren Mysterien des Rhythmus konnte Krauss' Neujahrskonzerts-Erbe Willi Boskovsky ja in seine lange Ära herüberretten und sogar via TV in die Welt schicken.

Dann gab es noch echte Höhenflüge, wenn alte philharmonische Lieblinge ihre einschlägige Aversion überwanden und den Weg ins Studio fanden: Was Hans Knappertsbusch mit den Wienern eingespielt hat, zählt samt und sonders zu den kostbaren Erbstücken der gemeinsamen Leidenschaft für sinnliche (fast ist man versucht zu schreiben: saftige) Klangentfaltung.

Nicht zu vergessen, die Begegnungen mit Maestri, die nur selten zu Gast waren, dann aber durch ihre Exzentrik die Spiellaune besonders anzustacheln wussten: Pierre Monteux gehörte (mit Haydn, Beethoven!) dazu, später, bleiben wir französisch, Georges Prêtre.

Und die spärlichen Auftritte der beiden Kleiber: Erich, der nie ein Philharmonisches dirigiert hat (!), sowie Sohn Carlos – dessen (im Sinne einer Bestandsaufnahme philharmonischer Ausnahme-Momente) wichtigste Tat vielleicht die Aufführung von Alban Bergs „Wozzeck“-Fragmenten war. Wir müssen ja doch die Balance zwischen Schallplatten- und Konzertrealität suchen: Der Mitschnitt dieses Abonnementkonzerts sollte – kleine Schmisse hin oder her – nicht auf den Ablauf der Schutzfrist warten müssen. Er gehört in seiner klanglichen Subtilität, Schönheit und Intensität im Umgang mit einem Werk der Wiener Moderne wahrhaftig zum philharmonischen Erbgut!


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