SEX SELLS - oder: Wie dick dürfen Opernsänger sein

Variationen über die Optik im Klassik-Betrieb


Hat in der Oper die Musik Vorrangstellung? Oder ist die Optik mindestens so wichtig? Wichtig genug jedenfalls, um die Besetzungspolitik zu beeinflussen, wenn nicht vollständig zu lenken? Wer die Übertragung von Verdis „Don Carlos“ aus Salzburg im Fernsehen gesehen hat, wird vielleicht zustimmen, dass selten eine Aufführung so filmreif „gecastet“ war wie diese. Eine junge, bildschöne Elisabeth von Valois, eine nicht minder attraktive Prinzessin Eboli, von der man glaubt, dass sich der verzweifelte König von ihr gern trösten lässt. Der König selbst, ein alter Mann, der seinen „Dienst am Reich“ im Schatten des noch älteren Kaisers Karl V. verrichtet. Der Infant – eine Geschichtslüge, wie nur Schiller sie erfinden konnte – ist ein fescher Prinz, dem ein wirklich smarter Marquis Posa zur Seite steht.

Stimmglanz für Hollywood. Aber diese Hollywood-reifen Schauspieler sind auch noch imstande, Giuseppe Verdis schwierige Opernpartien zu singen! Das erinnert daran, dass vor Kurzem sogar Anmerkungen zu lesen waren, dass eine vokal wie darstellerisch so hinreißende Interpretin wie Anna Netrebko für die Sterbeszenen der Schwindsuchtopfer Mimi und Violetta reichlich „gesund“ wirke; sogar in der Filmversion der „Bohème“, die Robert Dornhelm so überrealistisch zu inszenieren wusste.

Der Anspruch des Publikums ist, was die Kongruenz von Musik und wahrhaftiger Darstellung anlangt, in immense Höhen geschraubt worden. Wer im Ausklang der Wiener Staatsopern-Saison die wunderbare Nina Stemme zunächst als Brünnhilde, dann als Isolde erlebte, ist geneigt, an Wunder zu glauben: Die beiden anspruchsvollsten Rollen, die im Fach des Hochdramatischen erdacht wurden, erfuhren da ihre geradezu idealtypische Realisierung. Prachtvoller, strahlender, nie an die Ermüdungsgrenze gelangender Gesang, gepaart mit der Erscheinung einer schönen Frau von jugendlich-schlanker Gestalt.

Zugegeben, es gab zuletzt manches attraktive Gegenbeispiel zum alten Primadonnenmythos, demzufolge die musikalischen Ansprüche an eine Heroine – oder einen Helden – nur von mehr als wohlbeleibten Damen und Herren erfüllt werden könnten.

Zeichnungen von singenden Kolossen füllen Bände von Opernkarikaturen. Wegen des aus der Diskrepanz von Schein und Wirklichkeit geborenen Urteils, eine Sängerin sehe aus wie eine „Kredenz auf Radeln“ ist der Kritiker Karl Löbl einst verurteilt worden.

Singende Kolosse. Heute fände er kaum noch Gelegenheit zu solchem Spott. „Rollende Kredenzen“ werden bei Wagner, Verdi oder Richard Strauss kaum noch gesichtet. Was nicht heißt, dass es nicht zu unliebsamen Auseinandersetzungen zwischen Intendanten und Sängern kommen kann, wenn Letztere einem Regisseur nicht ins Konzept passen. Oder, besser gesagt, nicht in die Kleider, die das Regiekonzept vorsieht. Eine Ariadne für ihren Inselauftritt zu kostümieren war bis zum Jahr 2004 nie ein Problem gewesen.

Aber die Neuinszenierung in Londons Covent Garden Opera sah statt wallender Gewänder ein kleines Schwarzes vor, das für die Sopranistin Deborah Voigt definitiv „untragbar“ war. Die Sache machte schneller Schlagzeilen als die ranke, schlanke Einspringerin, Anne Schwanewilms Karriere. Und Voigt unterzog sich einer Operation. Sie war einige Monate nach dem Krach um 50 Kilo leichter – und ist nach einiger Zeit auch in der Londoner „Ariadne“ aufgetreten.

Abmagerungskuren. Die erste legendäre Abmagerungskur unter den Opernstars machte Maria Callas, die sich zwischen 1947 und 1951 effektiv „halbiert“ haben soll, von legendären 120 auf unter 60 Kilo. Filmauftritte und Bilder dokumentieren die Modelmaße der Diva, die ihre allerbesten Aufnahmen unmittelbar nach der drastischen Gewichtsreduktion gemacht hat. Die Stimme hat unter der Kur offenkundig nicht zu leiden gehabt.

Mit der Callas begann in Wahrheit der Stilisierungskult der Primadonnen und primi uomini, der bis heute ungebrochen anhält und mit der Erfindung des bunten Schallplattencovers einen ersten Höhepunkt erreichte. Noch sind in den Sechzigerjahren aber die Genres getrennt: hie die Klatschspalten-Berichterstattung mit den Fotografien der Paparazzi, da die Werbestrategie der Medienkonzerne.

Frühe Schallplattencover locken mit nobel gestylten Künstlerporträts, so sie überhaupt den Interpreten ins Bild rücken. Aus den herrlich altmodischen, geradezu lexikalisch wirkenden Hüllen, die ohne jegliches Bildmotiv auskommen, sondern lediglich in Riesenlettern verkünden, welches Werk die Vinylplatten im Innern des Pappkartons enthalten und wer die Interpreten sind, werden Covers mit Landschaftsbildern, nicht nur, wenn es um die „Pastorale“ oder die „Alpensymphonie“ geht.

Vielleicht blickt uns auch Beethoven grimmig entgegen, was immer noch vernünftiger scheint als sinnentleerte Kombinationen wie taubeträufelte Rosenblätter zu Liszt-Konzerten.

Die Callas, nicht im Bild. Als die Callas noch Schallplatten aufnimmt, kommt man ohne Titelbilder aus. „Bellini. Norma. Callas“, die Schriftzüge genügen auf dem Cover. Und das trotz der glänzenden optischen Erscheinung der Diva. Dass es von ihr nur einen „Tosca“-Akt als Videodokumentation gibt, ist ärgerlich. Denn im Zusammenspiel mit Tito Gobbi in der Rolle des brutalen römischen Polizeichefs Scarpia hat sich ein frühes Dokument einer Opern-Darstellungsweise erhalten, die kein Jota weniger „glaubwürdig“ scheint als die allerbesten modernen Inszenierungen Marke „Don Carlos 2013“.

Dies nur als Parenthese. Herbert von Karajan war schon auf den Plan getreten. Und den rückte man nun anstelle der Landschaftsbilder oder Komponistenporträts höchstselbst auf die Plattencover. Parallel zu diesem Personenkult befleißigte sich Karajans damalige Exklusivfirma, Deutsche Grammophon, in den späten Sechzigerjahren auch einer Politik der hoch künstlerisch gestalteten Plattencover, vorzüglich dann natürlich, wenn es nicht um Karajan ging, sondern etwa um zeitgenössische Musik. Ersteinspielungen von Werken Hans Werner Henzes suchte man mit exquisiten, eigens dafür produzierten Kunstwerken zu vermarkten. Covers wie jenes zum „Floß der Medusa“ oder der „Cantata della fiaba estrema“ sind Sammlerstücke.

Dergleichen kennt man im Pop-Bereich von den in jener Ära entstandenen Entwürfen Andy Warhols, die mittlerweile enorme Preise auf Auktionen erzielen. Wenn auch nicht vergleichbar mit jener Plattenhülle, die einst John Lennon eigenhändig für jenen Mann signierte, der ihn wenige Stunden später ermorden sollte. Das Album „Double Fantasy“ aus dem Besitz Mark Chapmans erstand vor einigen Jahren ein Anonymus für 150.000Dollar. Was freilich nichts mit Cover-Art und Künstler-PR zu tun hatte...

Karajan als „böser Wolf“. Promotion entwickelte ein Eigenleben, das bald die Musik völlig aus dem Blickfeld verdrängte. Höhepunkte im eigenwilligen Spiel um optische Präsenz auf dem Klassikmarkt markierten EMI-Covers in den frühen Siebzigerjahren. Karajans Aufnahme von Richard Strauss' „Heldenleben“, auf dem der Dirigent (als Held?) im Leder-Outfit erschien, als wäre er gerade von einem Motorrad abgestiegen, wurde so berüchtigt wie die aufklappbare Hülle der Aufnahme von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, für die Lord Snowdon im Wald bei Karajans Villa in Mauerbach die Fotos knipste: Auf der Vorderseite sitzt (notabene mit Karajans rotem Pullover um die Schulter) Anne Sophie Mutter, auf der Rückseite steht vor derselben Baumgruppe Karajan (mit demselben Pullover). „Rotkäppchen und der böse Wolf“, ätzten Betrachter, als das Album erschien, „der Tod und das Mädchen“ hieß es, noch böser, in der Plattenbranche.

Ob man ohne diese Aufmachung, die sich noch auf der ersten CD-Auflage variiert wiederfand, weniger Platten des an sich schon populären Titels verkauft hätte, bleibt Spekulation. Mädchen positionierte man wenig später noch in ganz anderen Posen. Eine hübsche koreanische Geigerin mit nasser Transparentbluse im Brunnen – „Wie heißt das Madel im Wasser“, fragte ein neugieriger Anrufer einen Wiener Plattenhändler damals. Welche Musik auf der Platte zu hören ist, hat er nicht gefragt...

Die nackte Carmen. Mehr oder minder platte Anwendungen des Mottos „Sex sells“ gestatteten sich die Musikproduzenten immer häufiger. Hie und da mit geradezu desaströsen Folgen: Die „Carmen“-Aufnahme mit Shirley Verrett unter Georg Soltis Leitung erschien mit dem Bild einer nackten jungen Dame im Halbprofil – definitiv nicht mit der Verrett identisch. Was als Cover entsetzlich ordinär und kitschig zugleich wirkte, kam beinah einem Rufmord an jenem Mann gleich, der das Bild gemalt hatte: Rafal Olbinskis Plakate für US-Opernhäuser hatten längst Kultstatus erlangt.

Doch die Kombination aus Olbinskis „Carmen“-Assoziationen (inklusive der Männerhände, die lüstern nach der unbekleideten Dame grapschen) und dem konservativ gradlinig beschrifteten Cover mit den Künstlernamen war grotesk, ja degoutant.

Mittlerweile sind freilich die Künstler selbst freizügig genug, um Werbeeffekte in jeglicher Position willig zu unterstützen. Aktuelle CD- und DVD-Cover sprechen da eine lebendige Sprache. Anna Netrebko schwamm im Trailer zu einer ihrer Solo-CDs sogar als Rusalka im Badeanzug auf einer Luftmatratze. Womit ein Höchstmaß an Werbe-Stilisierung erreicht sein dürfte. Im Gegenzug spielt man auf den Opernbühnen nun mit bildschönen Darstellern ganz realistisch Theater. Das ist der andere Effekt derselben Entwicklung...



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