Was schickt sich im Konzertsaal, im Opernhaus, was schickt sich nicht

Über das Applaudieren an der richtigen Stelle, verpönte Protestaktionen und den Blick in den Zuschauerraum zur Unzeit und den Wandel des kulturellen Sittenkodex


Im Wiener Musikverein hat man 2013 das legendäre "Watschenkonzert" rekonstruiert, bei dem 100 Jahre zuvor die Polizei einschreiten  und den Saal räumen musste.

Watschen sind 2013 natürlich nicht mehr verteilt worden. Um das „Skandalkonzert“ von anno 1913 getreulich zu wiederholen, hätte man, streng genommen, ein paar Aktionisten einbinden müssen. Immerhin berichten Zeitgenossen ja, dass damals „ein Herr aus dem Publikum in affenart‘ger Behändigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt seines Zorns zu ohrfeigen“.

Es ging dabei, wohlgemerkt, um Klänge. Klänge, die so erregend wirkten, dass die Auseinandersetzungen über das ästhetische Problem „Ist das noch Musik oder nicht?“ eine Schlägerei werden konnte.

Arnold Schönberg war der „Lärmerreger“. Der große Musikvereinssaal musste polizeilich geräumt werden. Die vorgesehene Aufführung der „Kindertotenlieder“ von Gustav Mahler musste unterbleiben. Gerade in der Partitur dieses Werks hatte sich der Komponist verbeten, dass zwischen den einzelnen Nummern Beifall gespendet wurde.

Was heißt hier Beifall?, möchte man fragen, angesichts der Krawalle, die an jenem 31. März 1913 losbrachen. Schönberg war dergleichen gewohnt. Schon anlässlich der Uraufführung seines Zweiten Streichquartetts, jenes Werks, in dessen Mitte der historische Bruch von der Dur-Moll-Welt in die sogenannten Atonalität für alle hörbar wird, herrschte Gustav Mahler einen Störenfried an: „Sie haben nicht zu zischen!“ „Ich zische auch bei Ihren Symphonien“, kam es postwendend zurück.

Gezischt werden soll also nicht im Konzertsaal. Applaudiert werden darf, das weiß man, nur an bestimmten Stellen. Was darf man überhaupt im Konzert, außer zuhören? Schauen? Sehen und das Gesehenwerden gehören zur Etikette des Kulturlebens. Im symphonischen Konzert ist uns die dazu nötige Beleuchtung des Zuschauerraums erhalten geblieben.

Verdunkelungsgefahr. Im Opernhaus wird längst verdunkelt, bevor der Dirigent eintritt. Die Konzentration soll sich auf das Bühnengeschehen fokussieren. Richard Wagner hat damit angefangen. Er ließ sogar den Orchesterraum verdecken. Im Bayreuther Festspielhaus gebären Stille und Dunkelheit das Drama. Dabei hat man die Theater im theatersüchtigen 19.Jahrhundert hufeisenförmig gebaut, auf dass der Blick auch in den Zuschauerraum schweifen möge, ohne dass gleich zu bemerken ist, wenn die Aufmerksamkeit der einen oder anderen Dame mit dem Operngucker gerade nicht den Ereignissen auf der Bühne, sondern dem Schmuck der Bekannten in Loge VII gilt.

Zum Gesamtkunstwerk Theater gehört das wahrscheinlich dazu. Doch nehmen wir einmal an, Anna Netrebko käme zur Abwechslung in die Oper, um sich eine Vorstellung anzuschauen – der bürgerliche Verhaltenskodex gebietet, dass wir ausschließlich ihre Kollegin auf der Bühne beobachten...

Leutnant Gustl als Paradebeispiel. „Ich muss auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert,“ räsoniert Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, den es in den Musikverein verschlagen hat. Der Herr Leutnant ist das Paradebeispiel für einen Konzertbesucher, der völlig unvorbereitet in eine Aufführung kommt. Er weiß nicht, was gespielt wird, wundert sich, wie lang so ein Oratorium dauert – und taxiert die Damen des Singvereins: „Ob das lauter anständige Mädeln sind, alle hundert?“

Schnitzler verrät zwischen den Zeilen auch, dass im Fin de Siècle nach einzelnen Nummern applaudiert wird: „Bravo. Bravo. Jetzt wird's doch bald aus sein“. Diesen Wunsch hegt wohl auch heute noch mancher Hörer, doch hat er keine Chance mehr, eine schöne Arie in einem Oratorium mit Bravorufen zu quittieren. Applaus während einer Aufführung ist verpönt. Da hat sich viel geändert.

Auch dazu hat Richard Wagner sein Scherflein beigetragen. Er wollte den störungsfreien Ablauf von ganzen Opernakten sicherstellen und kappte, ehe er die arienlose „unendliche Melodie“ für seinen „Ring“ erfand, die Schlüsse von Arien, um zu verhindern, dass der musikalische Verlauf unterbrochen wird.

Enthusiasmierte Hörerschaften haben das noch vor gar nicht allzu langer Zeit ignoriert. Sie tobten beispielsweise, wenn Christa Ludwig den Fluch der Ortrud, „Entweihte Götter“, in den Saal schleuderte, sodass „Lohengrin“ doch eine dritte Pause erlebte. Heute scheint das kaum mehr möglich, ganz abgesehen davon, dass es kaum eine Sängerin gibt, die der Ludwig an Intensität gleichkäme. Selbst wenn sich eine fände, würde es niemand mehr wagen, in die Musik hinein zu applaudieren. Die Tabuzonen wurden neu vermessen.

Noch einmal, bitte! Würde ein Opernunkundiger neugierig das Stück inspizieren wollen, das Giacomo Puccini um seinen Ohrwurm „Nessun dorma“ herum arrangiert hat, er würde staunen, dass es nach der berühmten Arie für den Sänger in der Regel keinen Beifall gibt. Nach wagnerschem Vorbild geht sie gleich in die folgende Szene über. Das hat die Fans der Tenöre über lange Jahre nicht gehindert, frenetisch zu jubelnd, wenn schön gesungen wurde. Hie und da musste das Orchester auch unterbrechen.

Noch früher zwangen italienische Opernschlachtenbummler ihre Idole gern, Nummern zu wiederholen. Sogar die Komponisten rief man zwecks Dankesbezeugung für schöne Melodien – „Autore! Autore!“ – auf die Bühne. Mitten im Akt!

Im Spätbarock maß man Erfolg oder Misserfolg eines neuen Werks an der Anzahl der verlangten Dacapos. Man stelle sich das vor: Wolfgang Rihm oder Friedrich Cerha werden während „Dionysos“ oder „Baal“ auf die Szene geklatscht und ein besonders eindrucksvolles Stücklein muss ein zweites Mal gesungen werden...

Viel zitierte Berichte von den enormen Erfolgen eines Joseph Haydn in London erzählen von den Praktiken des beginnenden Konzertlebens im ausgehenden 18.Jahrhundert. Die meisten Andante-Sätze mussten damals wegen des großen Zuspruchs noch einmal gespielt werden. Woraus zu schließen ist, dass selbstverständlich nach jedem einzelnen Satz geklatscht wurde.

„Valete et plaudite“. Doch nicht nur das: Wie in den Opern wurden auch in Symphonien gelungene Stellen mit Wohlwollen, enttäuschende mit Missfallen quittiert. Mozart schildert in einem Brief an den in Salzburg verbliebenen Papa, wie er mit der Erwartungshaltung des Pariser Publikums spielte, indem er das Gegenteil von dem tat, was bei den französischen Kollegen gerade in Mode war: Der Finalsatz einer Symphonie hatte im Forte zu beginnen – und begann bei Mozart pianissimo. Die Franzosen zischten, um danach beim verzögerten Forteeinsatz umso heftiger zu applaudieren. Mitten in die Musik hinein – das war's, worauf der Komponist spekulierte!

Womit er auf Sitten und Gebräuche rekurrierte, die bereits in Anfängen unserer Theatergeschichte untrennbar mit künstlerischen Darbietungen verbunden waren. „Valete et plaudite“, hieß es nicht erst nach römischen Komödien. Applaus entschied schon anlässlich der griechischen Dionysien über die Frage, welcher Dramatiker den Sieg davontragen sollte. Applaus und Buhrufe! Das ist aktenkundig.

So findet sich Arnold Schönberg also in der Gesellschaft von Aischylos und Sophokles – an die freilich im März 1913 im Musikverein niemand gedacht haben dürfte, als es darum ging, die Machtübernahme der Dissonanzen abzuwehren.

„Es wird gebeten, Beifall oder Missfallen nicht vor Schluss des Konzertes zu äußern“, ließ Schönberg daraufhin auf die Programmzettel der Konzerte seines „Vereins für musikalische Privataufführungen“ drucken. Das ist nicht ganz so rigoros wie – erinnert sich noch jemand? – das Vorhangverbot im Wiener Burgtheater oder gar das Beifallverbot, das Wagner – wenn auch aus anderen Gründen – für den ersten Aufzug seines „Parsifal“ ausgesprochen hat. Aber es markiert den Beginn einer Veränderung der Applauskultur. Spontane Reaktionen hat man im März 1913 sozusagen aus dem Konzertsaal gewatscht.




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