Venedig und die Oper - ein Reiseführer

Alle Städte sind gleich, nur Venedig ist ein bisserl anders. Das wissen wir von Friedrich Torbergs Tante Jolesch.

„Venedig ist Oper“, behauptet nun Willem Bruls, Autor des jüngsten Buchs über die rätselhafte Stadt, von der naturgemäß immer nur kleine Teilaspekte behandelt werden, wenn versucht wird, das große Ganze in einem gedanklichen Brennglas einzufangen.

Oper?

Eine Stadt als Bühnenbild jedenfalls, für eine Komödie, die von den wenigen Einwohnern und den unzähligen Touristen gespielt wird, und zwar nicht nur von denen, die gerade anwesend sind, sondern von allen, die schon einmal dort waren, und denen, die noch kommen.

So ist das bei Mythen. Deshalb hat die unvergleichliche venezianische Atmosphäre Generationen von Komponisten und Textdichtern inspiriert. Wer sich angesichts der narkotischen Welle von Eindrücken in der Hand hat, schafft es, die Essenz herauszufiltern. In solchen Momenten entstehen Wunder wie der zweite Aufzug von „Tristan und Isolde“. Läßt er sich aber wegspülen, verliert auch der sensibelste Künstler vor allem einmal viel Geld.

Sündteure Gondellieder

Hans Werner Henze berichtet amüsant von seinem ersten Venedig-Besuch: Man spielte ein Werk aus seiner Feder, und selbstverständlich konnte der Komponist nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Hotel gelangen. Man fuhr mit der Gondel – ohne vorab einen Preis auszuhandeln. Der Gondoliere kassierte zuletzt eine Summe etwa in der Höhe von Henzes Tantiemen . . .

Willem Bruls ist diesem Venedig-Klischee nicht erlegen. Er fuhr mit dem Vaporetto und ließ sich auf Torcello von einem Steinklotz namens „Attilas Thron“ inspirieren. Indirekt soll der Hunnenkönig ja für die Gründung Venedigs verantwortlich sein, weil die Europäer sich vor den herandrängenden Asiaten in die Lagune flüchteten.

Jedenfalls hat Giuseppe Verdi eine Oper über Attila komponiert und sie in Venedig herausgebracht. Das war inmitten seiner sogenannten Galeerenjahre und mit einiger Sympathie für den Eindringling, der mit höchst unlauteren Mitteln um seine Macht und dann durch den Dolchstoß seiner Braut wider Willen ums Leben gebracht wird.

Von Monteverdi bis Luigi Nono

An dieser Stelle treibt der Leser schon im Erzählfluß – im Canal Grande der Opernhistorie, die der Autor des originellen Buchs vor uns ausgießt.
Auf seinen Fahrten und Spaziergängen auf den Inseln und im Herzen der Stadt rund um Rialto macht Willem Bruls halt vor prächtigen Palazzi und unscheinbaren Hintertürchen, verwebt Morgendämmerungen und Marktgetriebe, Musikerbiografien und Inhalte von Libretti zum vielaktigen Drama seiner „Venedig“-Oper. Claudio Monteverdi und Richard Wagner, Verdi und Händel, Rossini und Vivaldi spielen ihre Rollen. Auf die jüngere Vergangenheit stößt der Autor bei seinem Rundgang auch, findet die Grabstätten von Serge Diaghilev und Igor Strawinsky, dessen „Rake's Progress“ im Teatro La Fenice uraufgeführt wurde.

Auch Luigi Nono wird gewürdigt, der die Klänge Venedigs so ganz anders gehört und verarbeitet hat als alle seine Vorgänger. Daß er, der bekennende Kommunist, der den Garten seines Hauses auf der Giudecca der Gemeinschaft abgetreten hatte, auf San Michele zwischen Nonnen und Priestern ruht, ist eine der dezent gesetzten Pointen, die diese Lektüre in Fülle bereithält.

Die letzte Pointe muß man hören

Die letzte mag der Leser selbst setzen. Daß der Name jenes Komponisten, der diese Stadt zum Schauplatz mehrerer seiner Opern machte, nur in einem Halbsatz erwähnt wird, könnte ihn inspirieren, nachdem er das Buch zugeschlagen hat, wieder zum Hörer zu werden: Ermanno Wolf-Ferraris Melodien führen ihn dann mühelos zurück zu den venezianischen Klischees.

Apropos, wer sich an die Hör-Empfehlungen halten mag, die am Ende des Bandes von den erwähnten Werken aufgelistet werden, stößt auf Bernard Haitinks Aufnahme des Adagiettos aus Gustav Mahlers Fünfter Symphonie. So weit reicht der Illusionismus alla Veneziana, daß aus dem tönenden Liebesbriefchen, das bei der Uraufführung etwas über sieben Minuten gedauert hat, ein 15-minütiger Grabgesang werden konnte, weil Luchino Visconti diese Musik zum Soundtrack für seine Thomas-Mann-Verfilmung „Tod in Venedig“ gemacht hat.
Ohne Klischees geht es in dieser Stadt nicht. „Venedig und die Oper“ hat ein hübsches neues hinzugefügt.

„Venedig und seine Oper“ von Willem Bruls: 264 Seiten, 20,60 Euro, Henschel-Verlag.