GOETHE UND DIE MUSIK

Genies wie Schubert hat er ignoriert, Mozart verehrt, aber auch mittelmäßige Talente geschätzt. Eine Bestandsaufnahme


"Wer reitet so spät durch Nacht und Wind" – diesen Rhythmus kann ja wohl nicht einmal verfehlen, wer Chinesisch als Muttersprache hat. Außerdem besteht doch jedes Gedicht, das etwas auf sich hält, aus Strophen. Sie geben der Poesie ihren Takt. Was sollte also schiefgehen, wenn ein halbwegs talentierter Musikant ein dieserart formvollendetes Kunstwerk einfach „in Musik setzt?“

Allerhand, befand Johann Wolfgang von Goethe. Denn die Komponisten wollten solche Verhaltensmaßregeln nicht anerkennen und erdreisteten sich, seine Gedichte zu völlig anders gearteten Klangkunstwerken zu verballhornen.

Schon die Tatsache, dass viele den Strophenbau ignorierten, ärgerte Goethe. Ein Lied „durchzukomponieren“ widersprach seiner Ästhetik der Einfachheit und der „Einheit der Empfindung“. Musik sollte Gedichte „wie einströmendes Gas den Luftballon mit in die Höhe“ nehmen.

In diesem Sinne schätzte der Dichter Zeitgenossen wie Carl Friedrich Zelter oder Johann Friedrich Reichardt, die er zu seinen persönlichen Ratgebern ich Sachen musikalischer Urteile machte. Urteile, die er selbst nicht zu fällen wagte, „denn es fehlt mir an Kenntnis der Mittel, deren sie sich zu ihren Zwecken bedient; ich kann nur von der Wirkung sprechen, die sie auf mich macht, wenn ich mich ihr rein und wiederholt überlasse.“

Wer die im harmlosen Siciliano-Rhythmus gehaltene „Erlkönig“-Vertonung Zelters hört, begreift nach wenigen Takten, warum ein Dichter, der eine solche Verharmlosung schätzte, mit der atemlosen, tatsächlich an keinem Versmetrum orientierten Dramatisierung durch Schubert nichts anfangen konnte. Ob der mit Zelter'scher Heißluft aufgeblasene Gedicht-Luftballon weit fliegen könnte, darf zwar bezweifelt werden. Führte man ihm jedoch die Schubert'sche Dynamitladung zu, würde er sogleich explodieren.


Der doppelte „Erlkönig“. Der „Erlkönig“ existiert freilich auf diese Weise zweimal: Einmal ist er von Goethe, das andere mal ist er, völlig verwandelt, von Schubert. So sieht es die Nachwelt. Ob dem Schöpfer zuzumuten ist, dass ihm sein Kunstwerk auf solche Weise entfremdet wird, steht auf einem andern Blatt.

Der Komponist war schon tot, als die junge Wilhelmine Schröder-Devrient Goethe das musikalische Meisterwerk vortrug. Der Dichter fand Gefallen – jedenfalls an der hübschen jungen Sopranistin; und geriet dadurch wohl in die geeignete Stimmung, seinem kongenialen musikalischen Deuter wenigsten posthum Rosen zu streuen: „Ich habe diese Composition früher einmal gehört, wo sie mir gar nicht zusagen wollte, aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild.“

Eineinhalb Jahrzehnte zuvor hatte Goethe ein Päckchen mit Schubert-Manuskripten, das ihm nebst einem untertänigsten Schreiben des Komponisten aus Wien zugesandt wurde, vermutlich nicht einmal geöffnet, geschweige denn den Inhalt einer Überprüfung unterzogen. Die Schubert-Forschung verzeiht ihm das bis heute nicht. Wie eine späte Entschuldigung für den Fauxpas liest sich die Bemerkung an Besucher: „Sie sehen ja selbst, wie das bei mir geht und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir einlaufen, und müssen gestehen, dass dazu mehr als ein Menschenleben gehören würde, wenn man alles nur flüchtig erwidern wollte.“


Zeit für Beethoven. Für Beethoven war Zeit, immerhin, wenn auch nicht oft. In Teplitz traf man aufeinander – und Goethe bemängelt das Ungeschlachte an des Komponisten Auftreten; erkennt aber an, dass es sich bei der Musik dieses „zusammengefassten, energisch und innigen“ Mannes um höchst aufregende Hörabenteuer handle. Im Falle der Schauspielmusik zu „Egmont“ sei Beethoven sogar „mit bewundernswertem Genie in meine Intentionen eingegangen“. Bei der Vertonung von Mignons Sehnsuchtsgesang aus dem „Wilhelm Meister“ freilich hätte er versagt wie Louis Spohr, der diesen schlichten Text ebenfalls „durchkomponiert“ hatte. Die ärgste Sünde wider den Goethe'schen Geist: „Die in jeder Strophe auf derselben Stelle vorkommenden gleichen Unterscheidungszeichen wären, sollte ich glauben, für den Tondichter hinreichend, ihm anzuzeigen, dass ich von ihm bloß ein Lied erwarte. Mignon kann wohl ihrem Wesen nach ein Lied, aber keine Arie singen“, beschied er dem Komponisten Wenzel Tomaschek und pries dessen sklavisch an den Strophenbau gebundene Version.

Dass vom selbstkritischen Beethoven ausgerechnet zu diesem „Kennst du das Land“ ein Skizzenblatt erhalten blieb, das dokumentiert, wie akribisch sich der Komponist mit dem Sprachrhythmus auseinandergesetzt hat, konnte der Dichter nicht ahnen . . .

Die dramaturgische Situation war es jedenfalls, die jedem Kenner verraten sollte, ob sich ein Text überhaupt zur Vertonung eigne oder nicht. Die damals grassierende Mode, Monologe zu Musikbegleitung zu rezitieren, lehnte Goethe ab. In seinem „Faust“ freilich schreibt er Bühnenmusik konsequent vor und lässt das Gretchen sich vor allem in Liedern aussprechen. Für den „Helena“-Akt des „Faust II“ spricht er sogar selbst vom Übergang von der Tragödie zur Oper und meint, eine adäquate Aufführung würde mit zwei Darstellerinnen der Titelheldin arbeiten müssen, einer Schauspielerin für den ersten, einer Sängerin für den zweiten Teil, da es doch „ein seltener Fall“ sei, „dass eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist“.

Womit die Unmöglichkeit einer ernsthaften „Faust“-Aufführung schon im Ansatz dokumentiert wäre. Mozart, ja, Mozart, der Meister des „Don Giovanni“, der wäre der Rechte gewesen, kommentierte der Dichter, und Meyerbeer hätte Geschmack genug, sei aber „doch zu sehr mit italienischen Theatern verflochten“.

Doch steckten in seinem Werk „einige gute Späße, welche die Welt über kurz oder lang auf manche Weise benutzen wird. Wenn die Franzosen nur erst die Helena gewahr werden und sehen, was daraus für ihr Theater zu machen ist! Sie werden das Stück, wie es ist, verderben; aber sie werden es zu ihren Zwecken klug gebrauchen, und das ist alles, was man erwarten und wünschen kann.“


Nichts für die deutsche Bühne. Nicht nur „die Helena“, muss man aus heutiger Perspektive ergänzen, und freut sich, dass man die Dinge von Gnaden des Meisters doch nicht so eng sehen muss wie einst Richard Strauss, der „alle zu Operntexten verunstalteten Libretti nach klassischen Dramen wie z. B. Gounods ,Margarete‘, Rossinis ,Tell‘ oder Verdis ,Don Carlos‘“ schärfstens „verurteilte“: „Sie gehören nicht auf die deutsche Bühne.“

Was hätte der Festspiel-Mitbegründer dazu gesagt, dass Salzburg für 2016 Gounods „Faust“ ins Programm genommen hat? Ganz zu schweigen davon, dass an der Staatsoper kommende Woche schon wieder Massenets „Werther“ – der einst im Haus am Ring sogar zur Uraufführung kam! – angesetzt ist. Ins Konzerthaus kommen demnächst die „Szenen aus Goethes Faust“ von Robert Schumann – mit einer Vertonung der gesamten rätselhaften Schlussszene von „Faust II“, die später auch Gustav Mahler in seiner „Symphonie der Tausend“ in Musik gesetzt hat. Nicht nur die Franzosen fühlten sich inspiriert . . .






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