Muss ein Tenor Noten lesen können?

Ein Geständnis des großen Luciano Pavarotti und die musikalische Realität

„Ich kann keine Noten lesen”, beichtete einst der große Operntenor Luciano Pavarotti dem Mailänder „Corriere della sera”. Die Verblüffung in der Medienlandschaft war groß, aus allen Weltnachrichten hallte die Sensation: Da hatte einer Weltkarriere gemacht, sogar unter Karajan den „Troubadour” gesungen, und konnte nie den Haustor- vom Violinschlüssel unterscheiden? Wie ging das zu?

„Ich kann ja Noten lesen”, soll Karl Böhm einmal geätzt haben, als man ihn fragte, warum er in der Oper die Partitur vor sich liegen habe, wo doch sein Kollege Karajan jedes Werk auswendig zu beherrschen schien. Das war natürlich bös', denn es gibt ja das eine oder andere offizielle Photo, das Karajan zeigt, wie er sich gerade über eine Partitur beugte. Freilich: Es sollen auch Tenöre wie Luciano Pavarotti schon mit Klavierauszug in der Hand gesichtet worden sein.

Düstere Ahnungen steigen auf. Forscht der Musikfreund in der Geschichte, kommen ihm Legenden von sagenumwobenen Stars unter, die gleichfalls nie im Entziffern der musikalischen Aufschreibekunst unterwiesen wurden. Und es ist sogar wahrscheinlich, daß der junge Giuseppe di Stefano, der Mann mit der definitiven Version der erotisierenden Tenorstimme, nicht im Büchel nachgeschaut hat, bevor er dem glücklichen Tonbandbesitzer anno 1944 „Und es blitzten die Sterne” ins Mikrophon geschmeichelt hat. Sowas hat jeder geborene Neapolitaner jederzeit drauf. Und Pavarotti, der starke Mann aus Modena hatte seinen Verdi vielleicht sogar auf der Straße gepfiffen, lang bevor er daran ging, dessen Melodien professionell zum Besten zu geben.

Einem, der musikalisch genu gist, fällt es ja nicht einmal schwer, den richtigen Text zu den Kantilenen zu lernen. Da könnte es ein Tenor sogar mit dem berühmtesten Schweinezüchter der Musikgeschichte halten, dem auch das Schreiben und das Lesen so fernstanden. Solang er nicht den zweiten Titelhelden in Arnold Schönbergs „Moses und Aron” singen will, und, Hand aufs Herz, wer will denn den so richtig „singen”? Von Bellini bis Puccini läßt sich ja alles ziemlich mühelos auch hörend aufnehmen wie das „Schneewittchen”, erzählt von der Großmutter. Oder wie die beliebten Schlager jener einzigen Meister ohne fachliches Abschlußzeugnis, die in die New Yorker Agenturen kamen, um ihre Kompositionen – zu pfeifen. Geschickte Arrangeuren, selbst nicht ganz so einfallsreich, aber im Konservatorium ausgebildet, haben sie dann aufnotiert, damit sie, dieserart vermittelt, zu Welthits werden konnten. Auch der Gymnasiast Einstein soll in Physik durchgefallen sein. Woraus ersichtlich ist, wie wenig weit es mit der Schulweisheit her ist angesichts der wahren Probleme, die es zu lösen gilt.

So ahnt man vielleicht, warum einem Beobachter der Szene etwa jene Dirigenten suspekt sind, die ganze Zeitungsspalten lang über Fehler referieren können, die sie beim eifrigen Studium der Originalpartitur herausgefunden haben. Manche von diesen Zwölmalftonklugen scheitern dann nämlich regelmäßig an der Musik, sobald sie tönend sich offenbart. Worum es da wirklich geht, das steht nämlich nicht in den Noten. Man hat das ja ohnehin schon immer gewußt. Nur Meldungen des „Corriere della sera” lassen uns sommers manchmal sogar Binsenweisheiten vergessen.   (1997)


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