„Die spielen das doch auch ohne Dirigent“  Teil II

Wie nötig ist der Kapellmeister? Oder: Brauchen auch traditionsreiche Spitzenorchester gute Erzieher?

Ein gutes Orchester ist ein gutes Orchester. Oder – auf gut wienerisch: Die Philharmoniker spielen alles ohne Dirigenten am besten. Ob das die ganze Wahrheit ist?

Da sind zum Beispiel die Osloer Philharmoniker. Die haben sich, das bewiesen sie wieder einmal bei den Salzburger Festspielen, unter der Führung ihres Chefdirigenten Mariss Jansons zum internationalen Spitzenorchester verwandelt. Eine solche Feststellung wiegt schwerer als es vielleicht den Anschein haben mag, denn in den vergangenen Jahren ist nicht nur in Oslo Bewegung in die Orchesterlandschaft gekommen.

Die seltsame Politik einiger der bis dato brillantesten Klangkörper der Welt zwischen Philadelphia und Berlin, London und Dresden, St. Petersburg und Prag wird über kurz oder lang vielleicht überhaupt eine Metamorphose mit sich bringen, die historisch gewachsene, für unumstößlich gehaltene Klassifizierungen in nostalgische Erinnerungen verwandeln könnte. Denn die Tradition, auf die sich Kommentatoren in diesem Zusammenhang gern berufen, ist nämlich nur ein Teil der Grundlagen orchestralen Glanzes.

Unabdingbar verknüpft mit der Pflege althergebrachter, von Generation zu Generation "vererbter" ästhetischer Positionen ist die konsequente Arbeit einer Musikergemeinschaft mit großen Dirigenten, die sich der Klangtradition verpflichtet fühlen, aber diszipliniert für deren fortwährende Kontrolle – und auch deren Weiterentwicklung – sorgen.

In Berlin hatten sich etwa die Philharmoniker nach dem Tod ihres Langzeit-Chefs Wilhelm Furtwängler an das so völlig anders geartete Klangbild zu gewöhnen, das dessen Nachfolger Herbert von Karajan pflegte. Es war, wie wir heute wissen, nicht zum Nachteil des Orchesters.

Es waren stets die prägenden Gestalten am Pult, die essentiell zum Zusammenhalt einer Musikergemeinschaft beigetragen haben. In Europa wie jenseits des Ozeans. Daß Chicago Symphony ein Spitzenorchester war, hatte es nicht zuletzt der konsequenten Aufbau- und Entwicklungsarbeit Fritz Reiners zu verdanken, mit dessen Namen der des Orchester bis heute untrennbar verbunden ist.

Ähnliches gilt für Leningrad und Mrawinsky, für Prag und Talich (beziehungsweise Ancerl und Neumann); ja es gilt sogar cum grano salis für Wien, wo sich die Philharmoniker zwar weigern, einen Chefdirigenten zu küren, aber keinen Zweifel daran lassen, wie wichtig ihre konsequente Zusammenarbeit mit Karl Böhm, Karajan oder (im Sinne einer Horizonterweiterung) auch Bernstein war – um nur die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit zu bemühen. Im Moment aber macht sich bei vielen der einst unangefochten führenden Orchester ein Zug zur "Bequemlichkeit" breit. Man wählt weniger anspruchsvolle Dirigenten, vielleicht um der jahrzehntelangen "Knechtschaft" eine "Entspannungsphase" folgen zu lassen.

Diese Geisteshaltung wäre ebenso zeitgemäß wie fatal: Wer die Zügel schleifen läßt, wird von jüngeren, ehrgeizigeren Ensembles überholt, eh' er sich's versieht. Was für erfolgreiche Firmen gilt, gilt auch in der Kunst. Die Erbengeneration meint, im Schlaraffenland zu leben, ohne dafür eine Leistung erbringen zu müssen. Der Bonus der "guten Tradition" aber ist so rasch verspielt, wie mühsam in den Generationen zuvor angespartes Kapital.

Anspruchsvolle Hörer realisieren bald, wenn unbekannte Orchester unter der Führung strenger Maestri künstlerisch zwingendere Ergebnisse erzielen als die "alten Kaliber", die zwar noch über eine ungebrochene Klangkultur verfügen, aber von Dirigenten geleitet werden, die wenig mehr vermögen, als das Echo dieses Klanges zu "ernten". Berühmteste Namen machen da keine Ausnahme. Die wirklichen "Chefs" der Vergangenheit aber haben diese herrliche "Ursubstanz" nach ihrem Sinn zu formen gewußt – und damit erst deren Bestand gesichert.

Große Orchester, die vergleichbare Dirigenten unserer Zeit – berühmte oder "Geheimtips" – allzu lang weniger berühmten Ensembles überlassen, dürfen sich nicht wundern, wenn ihnen diese den Rang ablaufen. Wer sich plötzlich in der zweiten Reihe findet, hat sich selbst dorthin manövriert.

(1995)


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