Unerhörtes um 11 Uhr vormittags

Mit der Einbindung von ungewohntem Repertoire setzten die Wiener Philharmoniker in ihrem notorisch ausgebuchten Abonnementzyklus Zeichen

Die Wiener Philharmoniker setzten in der Saison 2007/08 ein bemerkenswertes Signal. Ob man von Wagemut sprechen durfte bei einem Orchester, dessen Abonnementkonzerte notorisch ausgebucht waren und sind? Jedenfalls machte sich bei manchen Abonnenten des traditionellen Samstag-Sonntag-Zyklus hörbar Unmut breit. Die letzte Erweiterung des tönenden Wertekanons, die man ohne viel Gebrumm zur Kenntnis genommen hatte, war die vor allem von Gnaden des liebgewordenen Leonard Bernstein akzeptierte Einbindung der Werke Gustav Mahlers – die dann eine Mäzenin noch zementierte, indem sie dem Orchester viel Geld vermachte, unter der Voraussetzung, dass mindestens einmal pro Saison Mahler zu hören geben musste.

An „Modernem“ flattert jedoch über die Jahrzehnte hin nächst Bartóks Konzert für Orchester bestenfalls Strawinskys „Feuervogel“ durch den Goldenen Musikvereinssaal, ohne von Hustenattacken verscheucht zu werden. Im Herbst 2007 freilich schockte die selbstverwaltete Musikergemeinschaft mit der Hereinnahme von Werken Carl Nielsens, Gottfried von Einems, Olivier Messiaens oder Györg Ligetis. In mehr als der Hälfte der Programme erklang Musik, die bis dahin nie im Philharmonischen zu hören war – und mehrheitlich waren das sogar Stücke, die nach 1945 komponiert wurden.

Es war ein Paradigmenwechsel, der Irritationen hervorrief – und doch in seiner Zeichenhaftigkeit nicht hoch genug geschätzt werden konnte. Wer sonst als die Wiener Philharmoniker hätten aus ihrer quasi unantastbaren Position heraus eine Lanze brechen sollen für Musik, die hörenswert ist, aber im ewig gleichen Mainstream keine Chance hatte, ihr Publikum zu finden?

War es nicht mit den genannten Werken von Bartók oder Strawinsky so gewesen, dass beherzte Dirigenten und Orchester sie konsequent pflegen mussten, bis die Hörer erfahren hatten, dass diese Musik wenigstens so viel Freude bereiten kann wie eine „Sinfonie fantastique“?

Waren es nicht Kammermusik-Ensembles von höchstem Rang gewesen, allen voran das Alban Berg Quartett, die konsequent mit Musik des 20.Jahrhunderts konfrontierten und zuletzt sogar mit Musik von Lutoslawski Applaus-Stürme ernten konnten, weil der Boden richtig aufbereitet war.

Die Zeiten haben sich - zehn Jahre nach dieser philharmonischen Initiative immerhin ein wenig geändert. Wenn auch die durchschnittlichen Konzertprogramme – auch in Wien, auch Anno 2018 — immer noch als langweilig empfunden werden, weil nahezu jedes Gastorchester, jedes große Ensemble unausgesetzt die selben Werke wiederkäuen. Da waren und sind Programm-Initiative wie jene der Philharmoniker, die nach 2007 recht konsequent bei ihrer Entscheidung, Ungewohntes einzubinden, geblieben sind, nicht hoch genug zu bewerten. Die nächste Erste Mahler kommt ohnehin immer früh genug, und selbst von Meister Brahms, für den keine reiche Witwe eine postume Apanage ausgesetzt hat, dürfen wir annehmen, dass seine symphonische Vierer-Packung nicht so schnell der Vergessenheit anheimfallen wird.

Nur eine Frage, die der Musikkritiker sich und den Veranstaltern im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2009 gestellt hat, wurde nach wie vor nicht zureichend beantwortet: Könnte eine Repertoire-Initiative auch etwa in Sachen Joseph Haydn Sinn haben? Nachholbedarf gäbe es nämlich nicht nur in Sachen neuerer und zeitgenössischer Musik. Im Gegenteil: Die notorische Repertoire-Ausdünnung geht auch zu Lasten der sogenannten Klassiker. Aber das war und ist nicht nur ein philharmonisches Problem. Allein von Haydn gibt es an die 90 Symphonien, die im regulären Konzertbetrieb so gut wie nie zu hören sind. Das hat sich auch 2019 noch nicht geändert. Je mehr musikalische Werke auf CD und im Netz zugänglich geworden sind, umso stärker reduzierte sich die Anzahl jener Werke, die im Live-Musikleben eine Rolle spielen.  (Dezember 2008/Dezember 2018)



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