LEBENDE BILDER

Erinnerung an eine dekadente Belustigung des Ancien régime

"Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor.“ Also sprach der Graf in Goethes „Wahlverwandtschaften“ – und schon nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die illustre Gesellschaft begann mit einem Lieblingsspiel der damaligen Zeit: Bekannte Gemälde wurden nachgestellt.
Der Dichterfürst stand, wie einige Äußerungen unmissverständlich darlegen, solchem Treiben mit einiger Distanz gegenüber und fand es reichlich dekadent.
Dennoch gibt er in seinem Roman unverblümt zu, wie viel Pläsier feinsinnig-künstlerische Betrachtungen dieser Art dem notorischen Verehrer der holden Weiblichkeit verschafft haben: „Ganz ohne Frage“ reiche „eine solche lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinaus“ und errege „ein allgemeines Entzücken“. Verschmitzt paraphrasiert Goethe damit wohl sein eigenes Vergnügen, das er beim Betrachten der legendären Tableaux vivants der Amy Lyon empfunden hat.
Amy, besser bekannt als Lady Hamilton, erfreute die Gesellschaft in Neapel gern als lebende und vor allem– da sind sich sämtliche Zeitgenossen einig – höchst attraktive Skulptur. Den nachgestellten antiken Kunstwerken verlieh sie pantomimisch Ausdruck, erweckte sie also quasi zu neuem Leben.
Die klassischen Bildhauer konnten sich gegen derlei Anverwandlung ihrer Schöpfungen ja nicht mehr wehren. Und lebende Künstler hatten nicht immer die Wahl. Angeblich hat die Herzogin von Orléans, eine Generation vor Lady Hamilton, das Kunsttheater aus pädagogischen Gründen angezettelt. Ihre Sprösslinge sollten mittels „lebender Bilder“ anschaulichen Kunstunterricht erhalten.
Bedeutende Maler der Zeit wirkten nolens volens dabei mit, voran Jacques-Louis David. Ob er dieses Missbrauchs wegen später zum Parteigänger Robespierres wurde?
Wie auch immer: Damals gehörte die Beschäftigung mit Musik, Literatur und bildender Kunst selbstverständlich zu den grundlegenden Voraussetzungen kultivierten Lebens. Und heute? Heute ist sie aus dem Lehrplan verschwunden – wer mag, muss sich das abendländische Erbe selbst erobern.

Dabei könnten Aktivitäten wie jene des Kunsthistorischen Museums in Wien helfen, wo man im Herbst 2015 Künstler wie Angelika Kirchschlager und Sylvie Rohrer animiert hat unter dem Motto "Ganymed Dreaming" Werke aus der Sammlung des Kunsthistorischen Museums lebendig werden zu lassen. Vielleicht braucht es heutzutage wieklich eine solche Art von "Bildertheater", um Meisterwerken in unseren Museen die Chance zu geben, endlich aufmerksam betrachtet zu werden.


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