JOSEF MERTIN (1904-1998)
Josef Mertin hieß der Ahnvater dessen, was später dann als Pflege des Spiels auf
sogenannten Originalinstrumenten üppig ins Kraut geschossen ist und
international Schule gemacht hat. Für Generationen von österreichischen
Musik-Studenten und Wissenschaftlern war Mertin die erste Instanz in Sachen barocker und
vorbarocker Tonkunst.
Seine Konzerte, die er mit Schülern der Musikakademie in Wien veranstaltet hat, waren das dauerhafteste Zeichen seines Wirkens. Allein: Das verzerrt die Optik ein wenig. Mertin war Orgelbauer, akribischer Forscher, wußte über die rhythmischen Strukturen des gregorianischen Chorals ebenso Bescheid wie über die Frage, wie viele Dokumente als Quellen für eine möglichst originalgetreue Aufführung Johann Sebastian Bachscher Werke in Betracht zu ziehen seien.
Über all das und viel mehr wußte er eloquent und amüsant zu plaudern. Er war eigentlich ein Kämpfer der ersten Stunde, als man in diesem Land begann, sich für Musik aus der Zeit vor 1685 zu interessieren.
Wobei man alsbald auf schier unüberwindlich scheinende Hürden stieß. Musik des Frühbarock, der Renaissance oder des Mittelalters stand, wenn überhaupt, nur in handschriftlichen Quellen zur Verfügung, die zum größten Teil nicht einmal in eine für moderne Menschen entzifferbaren Schrift notiert sind.
Mertin
war einer der Pioniere, die dafür sorgten, diese frühe Musik auch einem Musiker
des zwanzigsten Jahrhunderts zugänglich zu machen. Schon in den zwanziger
Jahren wirkte er an ersten Aufführungen mit und gründete 1928 sein eigenes
Ensemble, das später noch lange als "Collegium musicum" aktiv war. Für
Musiker wie Nikolaus Harnoncourt – um nur den prominentesten zu nennen – war
die Begegnung mit Mertin von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Wie das geklungen hat, wenn Harnoncourt unter Mertins Leitung Bach musiziert hat, ist seit der Wiederauflage der Aufnahme der "Brandenburgischen Konzerte" aus dem Jahr 1950 für alle Interessenten leicht nachzuhören. Der Gambist Harnoncourt war damals 21 und Teil von Mertins Kammerorchester. Es genügt, aus dieser Aufnahme beispielsweise das von den Gamben geführte, nur für tiefe Streicher gesetzte B-Dur-Konzert (Nr. 6) gehört haben, um zu ahnen, auf welchem Humus die Klang- und Spielkultur der Originalklang-Eroberergeneration gewachsen ist: Die Kargheit und Klarheit, die dem damals herrschenden, hoch romantischen Bach-Bild da entgegengesetzt wurde, hat bis heute wenig von ihrem Überrumpelungspotenzial verloren . . .